26.11.2003
Diese von Walter Kreye gelesene Erzählung von Imre Kertész gleicht einer Science-fiction-Geschichte: ein Ereignis in der Vergangenheit an einem unbekannt erscheinenden Ort, ein Zeugnis, eine undurchschaubare Gesellschaft aus Opfern und Tätern, die ein Ereignis rechtsstaatlich abgearbeitet haben, eine ausländische Instanz und ein Gesandter, der einst an diesem Ort gequält wurde und nun als freier Mann zurückkehrt.
Diese Erzählung verläßt sich auf unser Wissen, das in späteren Generationen nicht mehr so detailliert gegenwärtig sein wird. Heute kennt noch jeder den Spruch im Tor des KZ Buchenwald: Jedem das Seine. Der Duktus vom Aussprechen des fast Unaussprechlichen, in dem ehemalige KZ-Insassen berichten, ist uns ebenso bekannt. Auch die Art des Ausweichens vor der Frage nach Verantwortung, die Reden von der ?Gnade der späten Geburt? sind uns geläufig. Die literarische Bearbeitung dieser Ereignisse könnte eine Langeweile des Grauens erzeugen. Nicht so bei Kertész. Denn er benutzt all jene Wörter nicht, die das Faktische darstellen. Die Begriffe ?KZ? und ?Nationalsozialismus? kommen nicht vor, auch nicht ?Holocaust?.
Vielmehr gibt sich ein situierter Mann, der zu einem Kongreß in die Gegend gekommen ist, auf dem Weg zu einem Tatort, an dem ein großes Übel geschehen sein muß, welches ihn noch immer belastet. Er kommt im Auftrage einer ungenannten Instanz, ist ?der Abgesandte?, der Orte besichtigt und einen Zeugen zu befragen hat. Namen fallen nicht. Walter Kreye übernimmt den Ton der Fiktion. Nie deutet er an, daß wir alle wissen, wovon dieses Stück handelt, das die Wörter nicht nennen will, weil wir sie kennen. Kreye liest das Stück so unauffällig wie ein harmloses Märchen. So entlädt sich die diesem Text innewohnende Wucht.
Der Abgesandte rechnet damit, daß der Zeuge sich windet. Dieser entzieht sich derart geschickt, daß man es ihm nicht vorwerfen kann, ohne gegen einen Dritten ungerecht zu sein. Der Abgesandte begibt sich mit seiner Ehefrau an den Tatort, von dem der Leser weiß, daß es das KZ Buchenwald ist. Die Reise ist beschwerlich, der Abgesandte fühlt sich von seiner Frau gestört, er muß die Erinnerung für sich allein dem jetzigen Zustand der Orte gegenüberstellen. Er läßt seine Frau vor dem Tor zurück. Wie sie dort steht, klein in karger Landschaft, wirkt sie verloren, es zerreißt dem Abgesandten das Herz. Hier spiegelt sich plötzlich das Abschiednehmen der ins Lager verschleppten Millionen.
Alles kommt anders, als der Protagonist es erwartet hat. Es kommt auch anders für den Leser: Das Lager ist eine Sehenswürdigkeit mit Restaurant geworden. Die Verwandlung ins Harmlose trifft den Abgesandten wie ein Tritt. Eine Frau erscheint, die mit wenigen Worten und Blicken den Abgesandten zur Strenge mahnt und sich später mit ihrem Trauerflor erhängt.
Die von Walter Kreye so hervorragend erzählte Geschichte hat etwas von einem Krimi, weil man hinter Geheimnisse kommen möchte. Fast beschämt diese Neugier.
Martin Z. Schröder